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Der Anschlag auf die Synagoge in Halle zu Jom Kippur jährt sich dieses Jahr zum 4. Mal. Durch den antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlag wurden zwei Menschen aus dem Leben gerissen, zahlreiche verletzt und traumatisiert. Ein Rechtsradikaler wollte die Gemeinde, die sich in der Synagoge versammelt hatte, ermorden. Er hatte ein antisemitisches und rassistisches Manifest veröffentlicht und streamte seine Tat. Als der Attentäter nicht in die Synagoge gelangen konnte, erschoss er eine Passantin und einen jungen Mann in einem Dönerimbiß.
Wir bleiben dabei: der Anschlag in Halle am 09.10.2019 war ein Einschnitt, nicht nur für die Betroffenen, für ihre Angehörigen. Der Anschlag war ein Zeichen für die zunehmende Radikalisierung rechter Ideologien, für die Kontinuität des Antisemitismus als mörderischer Ideologie und der rechten Bereitschaft zum Terror, die sich auch vier Monate später in Hanau zeigte. Am Tag des Anschlags reagierten die Behörden nur zögerlich, der Täter konnte aus Halle nach Wiedersdorf fahren, weitere Menschen angreifen und verletzen. Nach dem Anschlag und der Inhaftierung des Attentäters folgten weitere Skandale: so konnte er einen Ausbruchsversuch unternehmen, unterhielt Brieffreundschaften mit einer Polizeibeamtin und nahm zuletzt im Dezember 2022 in der JVA Burg zwei Geiseln und feuerte eine selbstgebaute Waffe ab. Immer wieder wurde er unterschätzt und erhielt Unterstützung aus der rechten Szene.
In Halle besuchten Politiker*innen die Anschlagsorte und versprachen Geld, das nie ankam. Zum dritten Jahrestag war das Gedenken schon so weit vergessen, dass der Mitteldeutsche Marathon am 09.10. durchgeführt wurde.
Auch deswegen vernetzten sich die Betroffenen und forderten: Kein Gedenken ohne die Betroffenen! Der angegriffene Tekiez wurde von Spendengeldern renoviert, kämpft aber bis heute um die wirtschaftliche Existenz. In Berlin findet jährlich das Festival of Resilience statt, das von Überlebenden des Anschlags organisiert wird.
Wir haben die letzten zwei Jahre in Berlin Gedenkkundgebungen organisiert, vor der Landesvertretung Sachsen-Anhalts. Dieses Jahr haben wir das nicht getan. Die Gründe dafür wollen wir hier darlegen. Die Gedenkkundgebungen wurden von Jahr zu Jahr kleiner, letztes Jahr standen wir mit rund einem Dutzend Menschen vor der Landesvertretung. Die Größe allein ist kein Argument, zeigt aber die schrumpfende Reichweite der Veranstaltung. Uns war wichtig, eine Veranstaltung zu machen, die neben Gedenken auch Raum hat für die politische Aufarbeitung, für die anhaltende Beobachtung des, insbesondere, staatlichen Umgangs mit dem Anschlag und seinen Folgen. Als Antifa-Gruppe sahen wir hier einen Punkt der anhaltende Aufmerksamkeit braucht.
Eine stationäre Gedenkkundgebung zu veranstalten und als Ort die Landesvertretung von Sachsen-Anhalt zu wählen erschien uns sinnvoll auch wenn bereits im letzten Jahr Zweifel aufkamen. Denn selbst wenn es nur drei aufeinanderfolgende Kundgebungen waren, das Gefühl der Ritualisierung und der sich anbahnenden Entleerung der Kundgebung durch das jährliche Wiederholen waren spürbar. Dabei ist es für uns wichtig, eben nicht in einen Gedenk-Ritus zu verfallen, bei dem am Ende nur das eigene moralische Gewissen befriedigt wird und jeder politische Anspruch hinter Phrasen und betroffen schauenden Gesichtern verschwindet. Wir wollen keine staatliche Erinnerungskultur reproduzieren und sie lediglich mit einem linksradikalen Anstrich übermalen.
Ohne eine Alternative im Kopf haben wir uns also dieses Jahr entschieden keine Kundgebung zu organisieren. Wir veröffentlichen diesen Text genau aus dem Grund, dass wir bisher mehr Fragen als Antworten haben.
Wie kann ein Gedenken, dass nicht nur die bloße Erinnerung an einem festgelegten Datum zum Inhalt hat, aussehen? Wie kann dennoch das Wissen um diesen Anschlag und die Erinnerung daran hochgehalten werden, ohne ein entleertes Ritual zu werden? Braucht es andere Vernetzungen, andere Orte, ein breiteres Gedenken? Welche Antworten auf Antisemitismus haben wir als radikale Linke, auch wenn er aus den eigenen Reihen kommt? Welche Aktionsformen und Ziele könnten mit einem Gedenken verbunden werden, ohne in blinden Aktionismus oder Selbstdarstellung zu verfallen?
Diese Fragen beschäftigen uns aus dem ganz spezifischen Standpunkt als nicht-jüdische Antifagruppe. Wir wollen weder dem Gedenken an sich noch anderen Gedenkveranstaltungen die Legitimität absprechen, sondern suchen nach neuen Wegen für einen antifaschistischen Umgang und ein anhaltendes Gedenken an den Anschlag in Halle.