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Proteste in Chile

Winter is Coming: Chile

Seit Oktober 2019 halten heftige Unruhen Chile in Atem. Die Proteste richten sich gegen das neoliberale System, welches unter dem Pinochet Regime vor mehr als 30 Jahren eingeführt wurde. Wir hatten die Gelegenheit, mit Paulo aus Santiago de Chile zu reden, welcher sich als Teil der Bewegung sieht, und mehr über die Proteste zu erfahren.

Titelbild von Eric Allende | Migrar Photo

Seit Oktober 2019 halten heftige Unruhen Chile in Atem. Die Proteste richten sich gegen das neoliberale System, welches unter dem Pinochet Regime vor mehr als 30 Jahren eingeführt wurde. Wir hatten die Gelegenheit, mit Paulo aus Santiago de Chile zu reden, welcher sich als Teil der Bewegung sieht, und mehr über die Proteste zu erfahren. Das volle Interview auf Englisch findet ihr unten in den Referenzen.

Die Ausschreitungen starteten als die Preise für den öffentlichen Nahverkehr erhöht wurden. Scheinbar eine kleine Sache, jedoch war die Preiserhöhung eher der Tropfen, der das ziemlich volle Fass zum überlaufen brachte. Die Situation weist interessanterweise damit Parallelen zu Frankreich und den Gilets Jaunes auf, welche in Erscheinung traten, als die Benzinkosten erhöht wurden.
Jedoch gehen die Gemeinsamkeiten weit über Oberflächlichkeiten hinaus: Das Auflehnen gegen den Neoliberalismus, das komplette Ablehnen von Sprecher*innen, Führungsfiguren und Parteien, die Kompromisslosigkeit, Wut und Entschlossenheit mit der gegen das System gekämpft wird. All dies eint die Menschen, welche auf komplett verschiedenen Seiten der Erde für etwas Besseres kämpfen.

Diese komplett verschiedenen und doch so ähnlichen Situationen zeigen uns, wohin das Paradigma des Neoliberalismus führt: Ungleichheit, Armut, Vereinzelung, Verdrängung. Sie zeigen uns jedoch auch, dass es Hoffnung gibt. Hoffnung auf etwas besseres als Staat und Kapitalismus.
Lasst uns aus diesen Protesten lernen, vor allem aus den Abwehrkämpfen gegen die radikale Rechte. Selbst im angeblich stabilen und krisenfesten Deutschland, könnte es in den nächsten Jahren zu einer ähnlichen Ausgangslage kommen [1]. Angesichts der deutschen Zustände – Rechtsterroristische Netzwerke in Bundeswehr, Polizei und Inlandsgeheimdienst – sollten wir soviel wie möglich von den Kämpfen gegen rechte Einflussnahme in anderen Bewegungen mitnehmen.

Interview mit Paulo

BPA: Die Proteste haben mit einer Preiserhöhung des öffentliches Nahverkehrs angefangen, richtig?

Paulo: Ja, als das passiert ist, haben wir gesagt „Stop! Wir haben kaum Geld und ihr wollt, dass wir noch mehr ausgeben. Wir wollen das nicht mehr akzeptieren! Es ist zuviel.“
Wenn du den Lebendsstandard in Chile mit dem von Deutschland oder anderen Ländern in Europa vergleichst, kostet Essen und der Nahverkehr ähnlich viel wie in Berlin, aber das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt nur etwa bei 500€. Bildung und Krankenversicherung sind auch sehr teuer. Wir haben kein Geld aber müssen überall viel ausgeben. Wir leben wie Sklaven. Das ist der Grund. Unser komplettes Leben haben wir in diesem scheiß System verbracht und wir wollen das nicht mehr akzeptieren.

BPA: Du meinst Neoliberalismus?

Paulo: Genau. Es hat angefangen unter dem faschistischen Regime von Pinochet, mit einigen Wirtschaftswissenschaftler*innen, welche die Chicago Boys genannt wurden. Die und andere Faschist*innen haben dieses System in Chile eingeführt, wie eine Art Experiment. Die Diktatur ist jetzt vorbei, das System aber bleibt bestehen. Und da wir dieses System bekämpfen wollen, wird die Polizei eingesetzt und fängt an uns zu töten.
Du kannst Videos von der Polizei finden, wie sie Kokain nehmen [2] um danach die Riots zu zerschlagen. Sie haben auch angefangen Schusswaffen zu benutzen. Mehrere hundert Menschen haben deswegen ein Auge verloren, zwei Betroffene sind jetzt komplett blind. Einige Leute sind verschwunden, einige wurden ausgeraubt und viele Frauen haben sexuelle Übergriffe erleben müssen. Die Polizei hier ist komplett verrückt. Der Staat macht nichts dagegen.

BPA: Wie positioniert sich die chilenische Protestbewegung zum Staat und zu den Parteien im Allgemeinen?

Paulo: Die Bewegung will weder mit dem Staat noch mit Parteien etwas zu tun haben. Wir einfachen Leute haben angefangen zusammenzustehen, Graffiti in den Straßen zu malen, Konzerte mit Antifa Gruppen zu organisieren und Geld für Nichtregierungsorganisationen zu sammeln, zum Beispiel für das Cruz Roja [3].
Es beginnt sich ein neues solidarischeres Miteinander und Füreinandner aufzubauen. Früher wussten wir Leute nichts über Selbstorganisation oder übers Demonstrieren. Aber mit der Zeit ist zu sehen, das der einzige Weg ist, alles niederzubrennen. Wir haben keine andere Wahl. Wer den pazifistischen Weg geht, wird von irgendeinem Cop niedergeschossen. Also ist es wichtig die eigene Integrität und Rechte zu verteidigen. Der einzige Weg das zu tun, ist mit direkter Aktion.
Es ist wirklich schön die Macht der Menschen zu sehen, weil sie wirklich an sich selber glauben und wissen, der einzige Weg etwas zu ändern, ist zu kämpfen. Sie haben keine andere Wahl, sie spüren keine Furcht mehr.

BPA: Arbeitet die Bewegung mit Sozialist*innen, Anarchist*innen oder Kommunist*innen zusammen? Wie passt die radikale Linke in die Bewegung?

Paulo: Ich würde sagen, die Bewegung ist anarchistisch. Nicht wie die linke Seite im Staat, sondern normale Menschen ohne Geld, die sich selbst organisieren. Als die Bewegung angefangen hat, wollte niemand etwas mit Politik zu tun haben, weder links noch rechts. Am Anfang war es nur die Bewegung des Volkes. Aber wir Menschen in der Bewegung haben uns nach links entwickelt. Als die politische Rechte aufgekreuzt ist, haben wir sie aus der Bewegung gedrängt. Dasselbe ist mit den Kommunist*innen passiert. Wir haben angefangen zu sagen: „Hey, wir wollen dich hier nicht mit deiner Flagge.“

BPA: Du hast die politische Rechte erwähnt. Gab es da Gruppen welche versucht haben die Bewegung zu beeinflussen?

Paulo: Ja, manchmal. Rechte haben angefangen faschistische Truppen zu formen, welche größtenteils aus reicheren Leuten bestehen, um die Demonstrierenden zu verprügeln. Aber die Leute sagen, wir wollen eure faschistische Scheiße hier nicht mehr und sind komplett gegen den Faschismus.

BPA: Wenn die Faschist*innen größtenteils reiche Leute sind, wer sind die Demonstrierenden?

Paulo: Die Bewegung besteht aus sehr vielen Menschen. Normale Leute, Frauen, Hooligans aus den großen Fußball-Clubs, auch die Armen und Verbrecher*innen, wir nennen die „Flaite“ [4]. Die Armen sind immer in den Protesten. Die sind es hauptsächlich, keine Reichen. Auch haben wir keine Anführer oder Gewerkschaften, nur Selbstorganisation.
Für diese Organisation nutzen wir hauptsächlich soziale Medien wie Instagram oder Facebook. Es ist sehr einfach so Wissen zu teilen. Zum Beispiel haben wir einige Techniken aus Hong Kong übernommen.
Etwa, wenn die Polizei einen mit Tränengas beschießt, tust du Wasser über die Granate und dann einen Behälter darüber um sie zu löschen. In der Vergangenheit wussten wir das nicht. Aber jetzt gibt es Bilder, Diskussionen und Videos in den sozialen Medien, und die Menschen fangen an das nachzumachen.
Auch sind die Antifaschist*innen eine wirklich wichtige Bewegung in Chile geworden. Früher wussten viele Leute nicht viel über Anarchist*innen oder Widerstand. Aber wir beginnen zu lernen. Anarchistische Solidarität ist zusammenzustehen. Kämpfe gegen den Staat, unterstütze den Feminismus, unterstütze Gays, unterstütze einen anderen Weg zu leben.


Referenzen und Fußnoten

[1] https://arrested.me/2019/07/30/winter-is-coming

[2] https://www.youtube.com/watch?v=yWSG9YQ_W9o

[3] Eine Art ehrenamtliches Rotes Kreuz

[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Flaite